Der Marsch über vier Donaubrücken gleichzeitig war jedoch mit der vollständigen Lähmung des öffentlichen Verkehrs gleichbedeutend und zog einen Schneeballeffekt nach sich. Vor der polnischen diplomatischen Vertretung versammelten sich Hunderte, vor der Statue des Nationaldichters Tausende und beim Denkmal des Generals Bem waren es bereits Zehntausende. Während des Aufmarsches der unterschiedlichen Kolonnen schlossen sich immer mehr Passanten den Studenten an. Und je größer die Menge wurde, desto weniger Aussicht bestand, die Ereignisse kontrollieren zu können.

Vor allem erwies sich das Vorhaben, Schweigemärsche durchzuführen, als eitle Hoffnung. Solange die Jugend in geschlossenen Reihen Arm in Arm marschierte, ähnelte die Veranstaltung den offiziellen Demonstrationen zum 1. Mai - bis auf den Unterschied, daß es hier keine durch Lautsprecher gelenkten Begeisterungsausbrüche gab. Überhaupt stand keine entsprechende Tontechnik zur Verfügung, und was die Menge noch am besten hören konnte, war ihre eigene Stimme. Die unter der nationalen Trikolore und teilweise sogar mit roten Fahnen marschierenden Studenten ließen am frühen Nachmittag Revolutionsgesänge erklingen, von denen wahrscheinlich das berühmte Kossuth-Lied von 1848 mit seiner traurigsüßen Melodie das populärste war:

Ludwig Kossuth ließ vermelden,

Daß gefallen viele Helden;

Sagt er's wieder, ohne Weilen

Müssen in den Kampf wir eilen.

Hoch die ungarische Freiheit, hoch das Vaterland!

Strömend fließt der Regen wieder,

Fließt auf Kossuths Haupt auch nieder

Soviel Tropfen wie des Regens

Niesle auf sein Haupt des Segens.

Hoch die ungarische Freiheit, hoch das Vaterland!

Die teils in Reimform skandierten Forderungen der Demonstranten klangen ziemlich moderat: «Von Rákosi haben wir genug, / wir brauchen einen neuen Parteivorstand!», «Unsere Jugend fordert,/ die Partei muß den Wegweisen!», «Weg mit der Willkür, / es lebe das Gesetz!", «Ungarisch-sowjetische Freundschaft / auf der Grundlage der Gleichheit!», «Ungarisch-polnische Freundschaft, l Wohlstand und Freiheit!», «Handeln wir nicht immer zu spät / Imre Nagy in die Führung!» Die Demonstranten waren überwiegend ärmlich gekleidet - Loden- und Windjacken der sozialistischen Konfektionsbetriebe beherrschten das Bild. Die Männer trugen altmodische Hüte oder Baskenmützen, die Frauen Kopftücher. Als nach dem Ende der Nachmittagsschicht allmählich die Werktätigen erschienen, ließ sich der soziale Unterschied optisch kaum feststellen. Die Spannung stieg mit jeder Minute, es blieb jedoch zunächst alles heiter und friedlich.

Allerdings wich die Reformrhetorik vor Bems Denkmal zunehmend dem Heimatgefühl. Ein bekannter Schauspieler deklamierte den leidenschaftlichen «Mahnruf» des romantischen Lyrikers Mihály Vörösmarty («Am Vaterland, o Ungarn, häng/ Mit fester Treue du, / Das hält und deckt dich -,fällst du einst - / Mit seinem Rasen zu.») Die Worte trieben den Menschen Tränen in die Augen. Der wahrscheinlich hier erdichtete Slogan «Wer Ungar ist, ist mit uns!» diente einerseits als Aufforderung an die Herumstehenden, sich der Menge anzuschließen, andererseits als eine Betonung des nationalen Charakters der Ereignisse.

Das Pathos des 19.Jahrhunderts schwebte über den Köpfen der Demonstranten. Bald skandierte man: «Kossuth-Wappen! Kossuth-Wappen!», ein Verlangen nach dem Staatssymbol von 1848, das die kurzlebige Nachkriegsdemokratie für einige Jahre übernommen hatte. Die Kommunisten hatten das großungarische Wappen mit den vier Flüssen und drei Gebirgen sofort nach ihrer Machtübernahme abgeschafft - die Geographie stimmte mit den Ergebnissen des Friedensvertrags von Paris 1947 nicht mehr überein. Die Fahne der Volksrepublik war nach wie vor rot-weiß-grün, allerdings mit einem hybriden Staatszeichen in der Mitte, das aus Hammer, Sichel, Weizenähre und dem Sowjetstern gebildet wurde. Der Erfindungsgeist des historischen Augenblicks veränderte die Heraldik, indem er dieses unerwünschte Sinnbild mit einer Schere entfernte. Die durchlöcherte Trikolore wurde zum Wahrzeichen des Volksaufstandes.

Quelle: György Dalos, 1956. Der Aufstand in Ungarn, mit Aufnahmen des Magnum-Photographen Erich Lessing, München 2006, S.46-48.