Am frühen Nachmittag setzten sich also Demonstrationszüge in Bewegung. Zuerst sangen die Studenten nicht nur die Nationalhymne, sondern auch die Marseillaise und andere Revolutions- und Volkslieder. Wo immer der mächtige Demonstrationszug vorbeimarschierte, kam das Leben zum Stillstand. Die Menschen winkten aus den Fenstern, die Straßen dröhnten von Parolen. Die Demonstranten führten ungarische und fallweise auch polnische Nationalflaggen mit. Sie marschierten durch die Innenstadt und auf der Pester Ringstraße über die Margaretenbrücke nach Buda (die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Elisabethbrücke war damals noch nicht wiederaufgebaut) zum Bemdenkmal. Hier zählte die Menschenmenge bereits Zehntausende.

Inzwischen hatte sich aber der Charakter der Demonstration geändert. Viele, vor allem junge Arbeiter und sympathisierende Passanten schlossen sich den Studenten an. Die Losungen wurden immer radikaler und nationaler: »Russen raus!«, »Geht nach Hause und nehmt euren Stalin (gemeint war das riesige Denkmal) mit!«, »Rákosi in die Donau, Imre Nagy an die Macht!«, »Bleibt nicht stehn auf halbem Weg, fegt den Stalinismus weg!«, »Bist du Ungar, bist du mit uns!«. Es tauchten immer mehr Fahnen auf, auf denen der rote Sowjetstern herausgeschnitten war.

Nachdem unser Blatt mit einer optimistischen Schlagzeile über den friedlichen Sieg der polnischen Reformer und die bevorstehenden bzw. bereits angelaufenen Studentenkundgebungen gedruckt und ausgeliefert worden war, versuchte ich mit einigen Kollegen, zunächst im Auto und dann zu Fuß jenen Demonstrationszug zu erreichen, der sich am Spätnachmittag beim Bemdenkmal einfand.

Niemand war in der Lage, die spontane Demonstration zu lenken oder die Eigendynamik der Entwicklung überhaupt zu beeinflussen. Es gab nicht einmal funktionierende Lautsprecher. Die bisher noch nie erlebte, gewaltige »Welle von unten« überrollte buchstäblich sowohl die Vertreter des Petöfikreises, des Diskussionsforums der innerparteilichen Rebellen (deren Lautsprecherwagen irgendwo in der unübersehbaren Menge stecken blieb), wie auch die inzwischen mobilisierten Funktionäre des kommunistischen Jugendverbandes und die Parteiaktivisten. Die Rede des Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes ging im Lärm ebenso unter wie das von einem bekannten Schauspieler vorgetragene Gedicht »Der Ruf« von Mihály Vörösmarty.

»Die verlassene Masse«, so lautet der Titel einer glänzenden Essaysammlung des ungarischen Zeithistorikers László Varga. Das ist eine sehr treffende Beschreibung dessen, was an diesem Tag in Budapest geschah. Der 23. Oktober 1956 war ein politisches Naturereignis ohne Zentrum, ohne Konzept und ohne koordinierte Führung. Dass die fast 900 000 Mitglieder starke »Partei der Ungarischen Werktätigen« (MDP), die »Vorhut der Arbeiterklasse«, nur ein Koloss auf tönernen Füßen war, bewiesen bereits die nächsten Stunden. Es war also geradezu folgerichtig, dass sich die Demonstranten und die unübersehbaren Menschenmassen, die sich den Studenten nach Dienstende in Pest und Buda angeschlossen hatten, vom Bemplatz, über die Margaretenbrücke in Richtung Parlament am Donauufer in Bewegung setzten. Sie wollten den 60-jährigen Hoffnungsträger der Opposition, den Anfang 1955 von den Stalinisten gestürzten, aus allen Funktionen entfernten und erst zehn Tage vorher wieder in die Partei aufgenommenen Imre Nagy hören.

Wie habe ich aber diesen Tag später erlebt? Nach der eindrucksvollen Kundgebung am Bemdenkmal ging ich nach Hause. Ich wusste nichts von der versammelten Menge vor dem Parlament oder von den beginnenden Demonstrationen vor dem Funkhaus. Ich hatte zunächst einen persönlichen Besuch zu absolvieren. Mein Freund Endre Gömöri, damals Sonderkorrespondent des Rundfunks, hatte mich aus Warschau angerufen und gebeten, bei seiner Frau und seinem einige Monate alten Töchterchen vorbeizuschauen. Sicherheitshalber, sagte er. Offenbar war er durch die Weltagenturen und polnischen Korrespondenten in Budapest besser informiert als ich. Jedenfalls fuhr ich am späten Nachmittag noch mit der Straßenbahn zu seiner Wohnung und fand die beiden wohlauf.

Vor dem Parlamentsgebäude und in den umliegenden Straßen waren um 18.00 Uhr bei Einbruch der Dunkelheit nach allgemeinen Schätzungen rund 200 000 Menschen versammelt - Studenten, Arbeiter, Angestellte, Pensionisten -, und sie alle riefen immer wieder nach Imre Nagy. Der Weg zum Aufstand konnte mit den altbewährten Methoden des kommunistischen »Krisenmanagements« - Gewaltandrohung und Propagandalügen - nicht mehr aufgehalten werden. Es war in den frühen Abendstunden offensichtlich, dass das von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzte und aus Moskau ferngelenkte Regime den Boden unter den Füßen verlor.

Quelle: Paul Lendvai, Der Ungarnaufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen, München 2006, S. 15-17.