„Wenn jemand heutzutage eine Erklärung abgibt, so betont er gerne, daß er sich von den Praktiken der Vergangenheit distanziere und aufrichtig sprechen will. Dies kann ich nicht tun. Ich brauche meine Vergangenheit nicht zu verleugnen. Dank der Gnade Gottes bin ich der gleiche, der ich vor meiner Einkerkerung gewesen bin. Geistig und körperlich ungebrochen, stehe ich zu meinen Überzeugungen genauso wie vor acht Jahren, obzwar mich die Haft schwer mitgenommen hat. Ich habe stets ohne Umschweife gesagt, was ich für wahr und richtig halte. Dies tue ich auch jetzt, da ich meine Worte unmittelbar und in eigener Person an die ganze Welt und an das ungarische Volk richte.

Ich bin heute zum ersten Male in der Lage, dem Ausland für all das zu danken, was es für uns tut. Vor allem will ich dem Heiligen Vater, Seiner Heiligkeit Papst Pius XII., meinen persönlichen Dank aussprechen, weil er so oft des Oberhaupts der ungarischen Kirche gedachte. Des weiteren gilt meine tiefe Dankbarkeit den Staatsoberhäuptern, den Leitern der Katholischen Kirche, den verschiedenen Regierungen und Parlamenten, allen Faktoren des öffentlichen und privaten Lebens, die während der Zeit meiner Gefangenschaft Teilnahme und Hilfsbereitschaft für mein Heimatland und für mein eigenes Schicksal bezeugten. Gott möge es ihnen vergelten! Dieselbe Dankbarkeit erfüllt mich gegenüber den Vertretern Sender Freies Dunapentele der Weltpresse und dem Weltnetz der Rundfunksender, dessen elektrische Wellen die einzige Weltluftmacht der Menschheit darstellen. Wir sind eine kleine Nation. In einer Hinsicht stehen wir dennoch an erster Stelle. Es gibt keine einzige Nation, die im Laufe einer tausendjährigen Geschichte mehr gelitten hätte als wir.

Wir mußten unablässig Freiheitskriege führen, meist zur Verteidigung der Länder des Westens. Diese Kämpfe haben die Kontinuität unserer Entwicklung unterbrochen, und wir mußten stets trachten, uns aus eigener Kraft erneut emporzuarbeiten. Zum ersten Male in der Geschichte genießt Ungarn jetzt die wahrhaft wirksame Sympathie der übrigen Kulturvölker. Wir alle sind dadurch tief gerührt. Jeder einzelne Angehörige unseres kleinen Volkes ist von Herzen glücklich, daß die übrigen Völker um unserer Freiheitsliebe willen unsere Sache zu der ihren gemacht haben. Wir möchten mit jedem Volk, mit jedem Land in Freundschaft leben. Wir Ungarn wollen als Fahnenträger des Friedens der europäischen Völkerfamilie leben und handeln. Nicht in künstlich proklamierter, sondern in wahrhaftiger Freundschaft. Wir wollen auch mit den großen Vereinigten Staaten von Amerika und mit dem mächtigen russischen Reich freundschaftliche Beziehungen aufrechterhalten. Wir wünschen ein gutnachbarliches Verhältnis mit Prag, Bukarest, Warschau und Belgrad. Was Österreich anlangt, so ist ihm dank der brüderlichen Haltung, die es während unseres schmerzvollen Ringens an den Tag legte, ein besonderer Platz im Herzen aller Ungarn sicher. Unsere gesamte Lage und unsere Zukunft werden im gegenwärtigen Augenblick durch die Frage bestimmt, was das Zweihundertmillionenreich der Russen mit seiner militärischen Gewalt innerhalb unserer Grenzen zu tun beabsichtigt. Nach Rundfunkmeldungen ist ein ständiges Anwachsen dieser militärischen Kräfte festzustellen. Wir sind neutral, wir geben dem russischen Reich keinen Anlaß zum Blutvergießen. Denken die Führer des russischen Reichs niemals daran, wie viel mehr wir das russische Volk schätzen würden, wenn es uns nicht unterjochte?

Die Kämpfe haben Arbeit und Produktion zum Erliegen gebracht, wodurch unsere innere Lage noch kritischer geworden ist. Der Freiheitskampf wird durch eine bis ins Mark erschöpfte Nation geführt. Wir sind vom Hungertod bedroht. Deshalb muß die Arbeit, die Produktion und der Wiederaufbau sofort und überall aufgenommen werden, im eigensten Interesse und im Interesse der Nation. Soll die Nation weiterbestehen, so ist dies unumgänglich und duldet keinen Aufschub.

Jeder einzelne im Land muß wissen, daß dieser Kampf keine Revolution war, sondern ein Freiheitskampf. Im Jahre 1945 wurde uns nach einem verlorenen und für uns sinnlosen Krieg ein Regime aufgezwungen, das von seinen eigenen Erben jetzt mit dem heißen Stempel des Ekels gebrandmarkt wird. Dieses Regime wurde durch die Gesamtheit der ungarischen Nation hinweggefegt. Seine Erben bedürfen hierfür keines Beweises. Es war ein beispielloser Freiheitskampf, an dessen Spitze sich die junge Generation stellte. Er wurde geführt, weil die Nation frei über ihr eigenes Leben entscheiden wollte, über ihr Schicksal, über die Verwaltung des Staates, über die Verwendung der Früchte ihrer Arbeit. Das Volk selbst wird es nicht zulassen, daß diese Realität verdreht oder mißbraucht wird. Uns tun jetzt Wahlen frei von Mißbrauch und Fälschungen not, Wahlen, bei denen Kandidaten aller Parteien auftreten können. Diese Wahlen sollten unter internationaler Kontrolle durchgeführt werden. Ich selbst stehe außerhalb und kraft meines Amtes auch über den Parteien, und das wird so bleiben. Kraft meines Amtes möchte ich aber jeden Ungarn davor warnen, nach der erhebenden Einigkeit der Oktobertage Parteihader oder Unstimmigkeiten aufkommen zu lassen. Viele Dinge brauchen unser Land, aber keineswegs viele Parteien und Parteiführer. Unsere Hauptsorge gilt der Existenz unserer Nation und dem täglichen Brot, nicht dem Politisieren. Die bisherigen Enthüllungen der Erben des gestürzten Regimes haben uns gezeigt, daß die Schuldigen durch unabhängige und unparteiische Gerichtshöfe zur Verantwortung gezogen werden müssen. Persönliche Rache soll unterbleiben und unmöglich gemacht werden. Dennoch muß ich auch die objektive Fassung der Aufgaben betonen, denn wir leben in einem Rechtsstaat, in einer klassenlosen Gesellschaft, wir sind daran, demokratische Errungenschaften voranzutreiben. Wir befürworten ein durch soziale Interessen richtig und gerecht beschränktes Privateigentum. Das ist der Wille des ganzen ungarischen Volkes. Andererseits will ich als Oberhaupt der Katholischen Kirche in Ungarn erklären, daß wir uns der gerechtfertigten Entwicklung in unserem Lande nicht widersetzen, ja daß wir im Gegenteil eine gesunde Entwicklung in jeder Hinsicht fördern wollen. Wir erwarten, wie es Recht und Rechtlichkeit erfordern, die sofortige Wiederherstellung der Freiheit des christlichen Religionsunterrichts sowie die Rückgabe der Institutionen und Gesellschaften der Kirche, darunter der katholischen Presse."

 

Quelle: Die Volkserhebung in Ungarn. Chronologie der Ereignisse im Spiegel ungarischer Rundfunkmeldungen, in: Hinter dem Eisernen Vorhang, Jg.2, 1956, Heft 12, Free Europe Committee, München, S.66f.