Tito, die Sowjets und Ungarn
Pula, Jugoslawien
…Sie wissen, daß Chruschtschow hier auf Urlaub war. Dabei haben wir uns auch hier unterhalten, noch viel mehr aber in Belgrad. Nachdem die Genossen Rankovic, Pucar und ich auf die Krim eingeladen waren, sind wir dort hingefahren und haben die Gespräche fortgesetzt. Wir haben gesehen, daß es ziemlich schwierig sein würde, etwas zu tun, da die sowjetischen Führer in bezug auf andere Länder eine abweichende Einstellung haben. Sie sahen ihre Beziehungen zu Polen, Ungarn und anderen Ländern aus einem falschen und mangelhaften Blickwinkel. Aber wir haben das nicht so tragisch genommen, denn wir haben gesehen, daß das nicht die Haltung der gesamten Sowjetführung ist, sondern nur eines Teiles, der diese Haltung den anderen bis zu einem gewissen Grade aufgezwungen hatte. Wir haben gesehen, daß diese Haltung von den Leuten ausging, die immer noch die stalinistische Position vertreten; wir sahen aber auch Möglichkeiten, daß in der Führung der Sowjetunion durch eine innere Evolution die Elemente siegen, die für eine kraftvollere und schnellere Entwicklung in Richtung auf eine Demokratisierung, für die Aufgabe aller stalinistischen Methoden und für die Schaffung neuer Beziehungen durch eine neue Außenpolitik unter den sozialistischen Staaten sind. Aus gewissen Anzeichen, aber auch aus Gesprächen haben wir gesehen, daß diese Elemente nicht schwach, sondern stark sind, daß aber dieser innere Prozeß einer Entwicklung in fortschrittlicher Richtung, in Richtung auf eine Aufgabe der stalinistischen Methoden, auch gestört wird von seiten einiger westlicher Länder, die sich mit ihrer Propaganda und der unaufhörlichen Wiederholung von der Notwendigkeit einer „Befreiung" dieser Länder in deren innere Angelegenheiten einmischen und eine schnelle Entwicklung und Besserung der Beziehungen zwischen diesen Ländern stören.
Da diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten durch Rundfunkpropaganda, durch Entsendung von Material mit Ballons und ähnlichem einen ziemlichen Umfang angenommen hat, ist die Sowjetunion der Ansicht, daß es zu ungünstigen Folgen kommen könnte, wenn sie diese Länder völlig verließe und ihnen etwa den Status gäbe, den Jugoslawien hat. Sie fürchten, daß in diesen Ländern dann reaktionäre Kräfte triumphieren könnten. Das heißt mit anderen Worten, daß sie nicht genug Vertrauen zu den inneren revolutionären Kräften dieser Länder haben. Nach meiner Auffassung ist das falsch, und der Kern aller späteren Fehler liegt im unzureichenden Vertrauen zu den sozialistischen Kräften dieser Völker...
Als wir in Moskau waren, wurde auch über Polen, über Ungarn und andere Länder gesprochen. Wir haben gesagt, daß Rákosis Regime und Rákosi selbst keinerlei Voraussetzungen besäßen, den ungarischen Staat zu leiten und ihn zur inneren Einheit zu führen, sondern daß das sehr schwere Folgen haben würde.
Leider haben uns die sowjetischen Genossen nicht geglaubt. Sie sagten, Rákosi sei ein alter Revolutionär, er sei anständig und so weiter. Daß er alt ist, das stimmt, aber das reicht nicht. Daß er anständig ist, könnte ich, soweit ich ihn kenne, besonders nach dem Rajk-Prozeß und allen anderen Dingen, nicht bestätigen. Für mich sind das die am wenigsten anständigen Menschen auf der Welt. Die sowjetischen Genossen sagten, er sei klug, er werde Erfolg haben, und sie wüßten nicht, auf wen anders sie sich dort stützen könnten. Gerade weil unsere staatliche Politik und ebensosehr auch unsere Parteipolitik gegen eine Einmischung, in die inneren Angelegenheiten anderer sind, und damit wir nicht von neuem mit den, sowjetischen Genössen in Konflikt gerieten, haben wir uns bei den sowjetischen Führern nicht genügend dafür eingesetzt, ein solches Gespann, wie es Rákosi und Gerb sind, abzusetzen.
Als ich nach Moskau fuhr, herrschte große Überraschung, warum. ich nicht über Ungarn gefahren bin. Gerade wegen Rákosi wollte ich nicht über Ungarn reisen. Ich habe gesagt, ich würde nicht über Ungarn fahren, selbst wenn der Weg dreimal kürzer wäre.
Als dort die Unzufriedenheit auch in den Reihen der Kommunisten immer stärker wurde und als sie forderten, Rákosi solle gehen, da sahen die sowjetischen Genossen ein, daß es nicht mehr so weiterginge, und waren damit einverstanden, ihn abzusetzen. Aber sie machten den Fehler, nicht zuzulassen, daß auch Gerö und die sonstigen Anhänger Rákosis, die sich beim Volk kompromittiert hatten, abgesetzt würden. Sie machten Rákosis Absetzung davon abhängig, daß Gerö im Amt bleiben müsse, und das war falsch, denn Gerö unterschied sich in nichts von Rákosi. Gerö verfolgte die gleiche Politik und trug die gleiche Schuld wie Rákosi.
Was konnten wir nun tun? Wir sahen, daß die Dinge nicht gutgingen. Als wir dann auf der Krim waren, war „zufällig" auch Gerö da, und wir trafen ihn „zufällig". Wir sprachen mit ihm [30. September]. Gerö verurteilte die bisherige Politik und sagte, sie sei falsch gewesen. Es sei falsch gewesen, daß man Jugoslawien verleumdet habe, kurz gesagt, er bereute in Sack und Asche und bat, wir möchten gute Beziehungen herstellen, wobei er versprach, alle früheren Fehler wieder gutzumachen und nicht mehr zur Vergangenheit zurückzukehren. Wir wollten beweisen, daß wir nicht rachsüchtig sind, daß wir nicht engherzig sind, und wir waren einverstanden, mit Gerö und einer Delegation der Ungarischen Partei, die nach Jugoslawien kommen sollte, zu sprechen. Wir wollten Beziehungen zur Ungarischen Arbeiterpartei herstellen, denn wir hofften, daß wir so, indem wir die Ungarische Arbeiterpartei nicht isolierten, leichter auf deren richtige innere Entwicklung Einfluß nehmen könnten ...
Marschall Tito, „Borba" (Belgrad),
16. November 1956
Quelle: Lasky, Melvyn J. (Hg.): Ein Weißbuch. Die ungarische Revolution. Die Geschichte des Oktober-Aufstandes nach Dokumenten, Meldungen, Augenzeugenberichten und dem Echo der Weltöffentlichkeit, Berlin 1958, S. 39f.