Eine 19köpfige Delegation des Zentralarbeiterrates ging zum Parlamentsgebäude, um mit János Kádár zu sprechen, dem Vorsitzenden des Ministerrates; sie wollte ihm die Forderungen der
Arbeiter der Budapester Hauptunternehmen und mehrerer großer Provinzunternehmen vorlegen. Diese Forderungen, in verschiedene vom Zentralarbeiterrat gebilligte Punkte zusammengefaßt, bestätigen, daß der Arbeiterrat streng am sozialistischen Prinzip festhalten und das soziale Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln verteidigen will. Verlangt wird u. a.: Imre Nagy soll die Führung der Regierung übernehmen; Schaffung eines Mehrparteiensystems, doch dürfen nur Parteien, die auf dem Boden des Sozialismus stehen, zugelassen werden; nach einiger Zeit Abhaltung von freien und geheimen Wahlen.
János Kádár ging diese Forderungen gründlich durch. Zunächst gab er die Ansichten der Regierung über die Person von Imre Nagy bekannt. Er sagte, Imre Nagy halte sich gegenwärtig in der Budapester Gesandtschaft eines fremden Staates auf, wo er um politisches Asyl nachgesucht habe. Unter diesen Umständen habe man keine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu verhandeln, und natürlich könnte er unter diesen Umständen auch nicht Ministerpräsident werden. Wenn jedoch Imre Nagy seine exterritoriale Position aufgeben und auf ungarischen Boden zurückkehren würde, könnte man sich mit ihm beraten und zu einer Übereinkunft kommen.
János Kádár sprach dann über die Parteienfrage und sagte folgendes: „Laßt uns die monopolistische Stellung der Partei in Betracht ziehen. Wir wünschen ein Mehrparteiensystem und freie ehrliche Wahlen. Wir wissen aber auch, daß dies keine einfache Sache sein wird, denn nicht nur durch Kugeln, auch durch Wahlzettel kann die Macht der Arbeiter erledigt werden. Wir haben in Rechnung zu stellen, daß wir bei den Wahlen eine völlige Niederlage erleiden, aber wenn wir den Wahlkampf aufnehmen, könnte die Kommunistische Partei die nötige Stärke wiedererlangt haben, um sich das Vertrauen der arbeitenden Massen zu erhalten. Die Kommunistische Partei hat Fehler, und man hat sie mit Dreck beworfen, aber die Partei ist nicht identisch mit jenen, die ihren Namen mißbraucht haben; 900 000 ehrliche Menschen gehörten der Partei. an ..."
Ferner wies er darauf hin, daß die Verdrängung der Kommunisten aus dem Parlament notwendigerweise die Vernichtung des Sozialismus und der Volksmacht zur Folge hätte, und fuhr fort: „Wir haben keinen Grund, an den Erklärungen ehrbarer Politiker der Mitte zu zweifeln, daß auch sie den Sozialismus wollen; nach einer Wahlniederlage der Kommunisten könnten diese Politiker jedoch von ihren eigenen Parteien kaltgestellt werden. Es gibt keinen Politiker der Mitte, so gutmeinend er auch sein mag, der die Fabriken und den Grund und Boden ohne Hilfe der Partei der Arbeiterklasse verteidigen könnte."
Dann kam er auf die Frage der Sowjettruppen zu sprechen und sagte, man sei gezwungen gewesen, sie um Intervention zu bitten. Kádár erklärte: „Die Ereignisse der verflossenen Wochen haben deutlich erkennen lassen, daß die unmittelbare Gefahr einer Vernichtung der Volksmacht bestand. Das ist gewiß von vielen nicht begriffen worden, und es ist ja auch nicht leicht, die Ereignisse der vergangenen Wochen abzuschätzen. Wir alle waren Zeugen, wie eine anständige Studentendemonstration, die mit gerechtfertigten Forderungen auftrat, innerhalb von zwei Stunden in Kämpfe umschlug, in deren Verlauf das Funkhaus, das Gebäude der Zeitung Szabad Nép, militärische Depots, das József-Telefonamt und die Zentrale Telefonvermittlung besetzt wurden. Dies war unmöglich eine spontane Handlung der Studenten, denn solche Aktionen können nicht von Unerfahrenen organisiert werden. Später waren wir Zeuge von Arbeiterdemonstrationen zugunsten eines Streiks. Wir erkannten wohl, daß diese ganze Bewegung nicht als Konterrevolution bezeichnet werden konnte, aber wir wären blind gewesen, wenn wir übersehen hätten, daß neben tiefem Unwillen .wegen ernster Versehen und neben den gerechten Forderungen der Arbeiter auch konterrevolutionäre Forderungen in Erscheinung traten ..."
In Verbindung mit dem Staatssicherheitsdienst (AVO) berichtete Genosse Kádár auf Grund seiner eigenen Erfahrungen im Gefängnis; er kenne mehrere Mitglieder der AVO persönlich. Trotzdem riet er in dieser Frage zu Mäßigung ... Die AVO habe sich in ihre Bestandteile aufgelöst, sie sei zerschmettert, und man habe sie auch nicht nötig. „Die einfachen Rekruten unter den jungen Leuten der AVO sollten indessen nicht verfolgt werden. Gleichzeitig aber muß man verhüten, daß ehemalige Mitglieder der AVO privilegierte Stellungen wiedergewinnen."
Genosse Kádár wandte sich dann der Streikfrage zu. Er bat die Mitglieder der Delegation, die Lage zu überdenken, und sagte, wenn sie alles in Betracht zögen, müßten sie erkennen, daß weitere Streikaktionen nur zu Inflation und Hunger führen würden. Es sei nicht mehr viel Zeit zu verlieren. In ein oder zwei Wochen könnten wir die Bettler der Welt sein...
Die Delegationsmitglieder verhandelten und diskutierten dann lange mit dem Genossen Kádár. ... Eines der Probleme war die Neutralität. Genosse Kádár betonte, dies sei eine sehr begreifliche Forderung, aber die Streitfrage sei nicht einfach unter dem Gesichtspunkt von Wunsch und Verlangen zu erörtern, solange es Völker gebe, die nicht dasselbe wünschten und deren Interessen nicht auf Neutralität, sondern auf Krieg zielten. Man könnte nicht einfach auf ein Blatt Papier schreiben: „Wir wollen Neutralität." Dazu sei ein Gleichgewicht der Kräfte nötig, eine internationale Situation, die der Forderung Realitätswert verleihe...
In Beantwortung einer anderen Frage bestätigte Genosse Kádár endgültig, daß niemand wegen seiner Teilnahme an der großen Volksbewegung der letzten Wochen Schaden erleiden solle. Er betonte auch nachdrücklich, man sei sich mit den zuständigen sowjetischen Stellen darüber einig geworden, daß keiner deportiert werde...
Quelle: Lasky, Melvyn J. (Hg.), Ein Weißbuch. Die ungarische Revolution. Die Geschichte des Oktober-Aufstandes nach Dokumenten, Meldungen, Augenzeugenberichten und dem Echo der Weltöffentlichkeit, Berlin 1958, S. 285f.