80. Als Nagys Regierung durch die sowjetischen Streitkräfte gestürzt wurde, übernahmen russische Befehlshaber, nicht Kádárs Regierung, die Kontrolle. Das Schicksal Nagys und seiner unmittelbaren Umgebung zeigte sehr bald, daß die ungarische Regierung nicht imstande war, ihre souveräne Unabhängigkeit der sowjetischen Intervention gegenüber aufrechtzuerhalten. Nagy verließ das Parlamentsgebäude gegen 6 Uhr morgens und bat um Asyl in der jugoslawischen Gesandtschaft. Etwas später suchten andere führende Ungarn Asyl im gleichen Gebäude. Unter ihnen war die Witwe László Rajks mit fünfzehn anderen Frauen und siebzehn Kindern. Während der Verhandlungen, die zwischen der jugoslawischen Regierung und Kádár stattfanden, schlug die jugoslawische Regierung vor, Kádár solle schriftlich garantieren, daß Nagy und seine Freunde ungehindert nach Hause zurückkehren oder, wenn das nicht möglich sei, nach Jugoslawien gehen könnten. Ein Vorschlag Kádárs, Nagy und seine Freunde sollten Zuflucht in Rumänien suchen, wurde von Nagy zurückgewiesen. Andere Forderungen von Kádár, die Nagy für unannehmbar hielt, waren: Nagy solle von seinem Posten in der Regierung zurücktreten, er solle eine Selbstkritik seiner Tätigkeit anbieten und eine Sympathieerklärung für die Kádárregierung abgeben. Schließlich schrieb die jugoslawische Regierung an Kádár, sie würde den Weggang Nagys und seiner Freunde aus der Gesandtschaft nur erlauben, wenn Kádár als Ministerpräsident der ungarischen Regierung schriftlich freies Geleit für alle garantiere, so daß sie sicher nach Hause zurückkehren könnten. In seiner Antwort bestätigte Kádár schriftlich, daß die ungarische Regierung keine Sanktionen wegen ihrer früheren Tätigkeit gegen Imre Nagy und seine Kollegen anzuwenden wünsche.
(…)
634. In dem vom 18. November datierten Brief der jugoslawischen Regierung an die Adresse Kádárs wird besonders darauf hingewiesen, daß die jugoslawische Gesandtschaft mit dem Weggang der Gruppe aus ihrem Gebäude nur einverstanden sein würde, nachdem sie die schriftliche Garantie Kádárs in seiner Eigenschaft als Präsident der Regierung der ungarischen Volksrepublik erhalten hätte, daß Ministerpräsident Nagy und seinen Begleitern sicheres Geleit bis zu ihren verschiedenen Wohnungen gewährt werden würde. Kádár stellte am 21. November in seiner Antwort an die Regierung der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien fest:
„Um die Sache zu beenden, bestätigt die ungarische Regierung, indem sie sich einverstanden erklärt mit den Vorschlägen, die in dem durch die jugoslawische Regierung an mich gerichteten Brief vom 18. November 1956 auf Seite 3, Absatz 8, enthalten sind, schriftlich ihre mündliche Erklärung, daß sie nicht den Wunsch hat, Sanktionen wegen ihrer vorherigen Tätigkeit gegen Imre Nagy und die Mitglieder seiner Gruppe anzuwenden. Wir nehmen es zur Kenntnis, daß das der Gruppe gewährte Asyl hiermit beendet ist und daß sie selbst die jugoslawische, Gesandtschaft verlassen werden und ungehindert in ihre Wohnungen heimkehren werden."
635. Am nächsten Tag, am 22. November, kam um 6.30 Uhr nachmittags ein Bus vor der jugoslawischen Gesandtschaft an. Dieser Bus war den Flüchtlingen von dem Minister für die Armee und die öffentliche Sicherheit, Münnich, zur Verfügung gestellt worden. Während die Gruppe einstieg, kam sowjetisches Militär dazu und bestand darauf, mit einzusteigen. Darauf bat der jugoslawische Gesandte zwei Angestellte der Gesandtschaft, ebenfalls einzusteigen und die Gruppe zu begleiten, um sicher zu sein, daß Ministerpräsident Nagy und seine Begleiter ihre Wohnungen, wie vereinbart, erreichten. Der Bus fuhr zum Stadthauptquartier des sowjetischen Militärkommandos, wo den beiden jugoslawischen Angestellten von einem sowjetischen Oberstleutnant das Aussteigen befohlen wurde. Dann fuhr der Bus in Begleitung sowjetischer Panzerwagen mit unbekanntem Ziel davon.
636. Der obige Zwischenfall veranlaßte die jugoslawische Regierung, eine Verbalnote herauszugeben, in der sie die Handlung der ungarischen Regierung als „flagranten Bruch der getroffenen Vereinbarungen“ bezeichnet. „Gerade die Tatsache, daß er unmittelbar nach Abschluß der Vereinbarung erfolgte, wirft ein besonderes Licht auf ihn.“ Die Note leugnet kategorische die Version, daß Ministerpräsident Imre Nagy und seine Begleiter freiwillig nach Rumänien gegangen seien; denn sie hatten es während ihres Aufenthaltes in der jugoslawischen Botschaft eindeutig klar gemacht, daß sie sich weigern würden, nach Rumänien zu gehen. Die Note stellte dann fest, daß der Bruch der Vereinbarung eine negative Wirkung auf die jugoslawisch-ungarischen Beziehungen haben würde und erklärte ihn für völlig im Widerspruch mit der allgemein anerkannten Anwendung internationaler Gesetze.
(…)
638. „Népakarat", das Organ der ungarischen Gewerkschaften, erwähnte in seiner Ausgabe vom 23. November, daß das „Kabinett" bis 1.30 Uhr morgens konferiert und daß danach Kádár die volle Verantwortung für Nagys Reise nach Rumänien übernommen habe. In einem Regierungskommuniqué, das am Abend des 23. November erschien, wurde gemeldet, daß Ministerpräsident Nagy und einige seiner Kollegen, die in der jugoslawischen Gesandtschaft Asyl gesucht hatten, das Gesandtschaftsgebäude am 22. November verlassen hätten und nach Rumänien gegangen seien, gemäß einer vorher übermittelten Bitte, daß es ihnen gestattet werden möge, in ein anderes sozialistisches Land zu gehen.
639. Auf Grund von Beweismaterial, das ihm zur Verfügung stand, und nach Zeugenaussagen ist der Ausschuß überzeugt, daß Ministerpräsident Nagy und seine Begleiter nicht freiwillig nach Rumänien gegangen sind, wie das in dem ungarischen Kommuniqué behauptet wird, sondern daß sie durch die sowjetische Aktion dazu gezwungen wurden. Er hat Beweise dafür, daß, als sie gezwungen wurden, ein Flugzeug zu besteigen, sie nicht einmal wußten, wohin der Flug ging. Nach anderen Zeugnissen scheint es, daß die Gruppe noch in Rumänien festgehalten wird und einige ihrer Mitglieder unter gefängnisähnlichen Umständen leben.
Quelle: Der Volksaufstand in Ungarn. Bericht des Sonderausschusses der Vereinten Nationen, Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Verbindungs- und Informationsstelle Bonn, Frankfurt am Main 1957, S. 24f, 188f.