Seit den beiden Weltkriegen hat unser Land keine derart tragischen Tage erlebt wie diese. Ein Bruderkrieg tobt in der Hauptstadt unseres Vaterlandes. Die Zahl der Verwundeten dürfte in die Tausende gehen, die der Toten in die Hunderte. Dem Blutvergießen muß unverzüglich ein Ende bereitet werden. Um das zu gewährleisten, greift das Zentralkomitee zu folgenden Maßnahmen:
1. Eine Empfehlung. zur Wahl einer neuen Nationalregierung. Dieser Regierung soll es obliegen, die Fehler und Verbrechen der Vergangenheit wiedergutzumachen. Das Zentralkomitee unter Vorsitz des Genossen Imre Nagy legt Empfehlungen hinsichtlich der Mitglieder einer Regierung vor, die auf breitester nationaler Grundlage zu bilden ist.
2. Die neue Regierung wird auf der Basis der Unabhängigkeit, der völligen Gleichberechtigung und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung aufnehmen, um die beiderseitigen Beziehungen zu regeln. Als erster Schritt werden die sowjetischen Truppen nach Wiederherstellung der Ordnung unverzüglich in ihre Stützpunkte zurückkehren. Die absolute Gleichberechtigung zwischen Ungarn und der Sowjetunion entspricht den Interessen beider Länder, denn nur so kann eine wahrhaft brüderliche, unverbrüchliche ungarisch-sowjetische Freundschaft aufgebaut werden. Auf eben dieser Basis werden gerade die Beziehungen zwischen Polen und der Sowjetunion umgestaltet.
3. Das Zentralkomitee befürwortet die Wahl von Arbeiterräten in den Fabriken unter Einschaltung der Gewerkschaftsorgane Lohnerhöhungen sind durchzuführen.
4. Die Regierung gewährt sämtlichen Teilnehmern an den Kämpfen volle Amnestie, unter der einzigen Bedingung, daß sie die Waffen sofort niederlegen, spätestens jedoch bis heute abend 22 Uhr.
5. Das Zentralkomitee und die Regierung lassen keinen Zweifel daran, daß sie auf dem Boden sozialistischen Demokratie stehen, sind jedoch zugleich fest entschlossen, die Errungenschaften der Volksdemokratie zu verteidigen und nichts davon aufzugeben.
Das Zentralkomitee erläßt die Warnung, daß diejenigen, die gegen die Staatsmacht unserer Volksrepublik die Waffen erheben und sie nicht innerhalb der gesetzten Frist niederlegen, erbarmungslos vernichtet werden.
6. Sobald die Ordnung wiederhergestellt ist, werden wir unverzüglich daran gehen, alle vorzunehmenden Veränderungen im einzelnen auszuarbeiten.
Wir brauchen Frieden und Ordnung. Nicht einziges Menschenleben darf mehr verlorengehen. und Kinder, Verheiratete und Verlobte müssen sich wiederfinden, so daß wir die Wunden heilen und die Trauernden trösten können. Wir brauchen Ordnung und Frieden zur Wiederaufnahme der Arbeit.
Ungarische Soldaten! Gebt ein Beispiel bei der Wiederherstellung der Ordnung. Auf Euch vertraut die Bevölkerung der Hauptstadt. Duldet keine Provokationen und reinigt die Straßen, von denen, die im trüben fischen wollen.
In diesen Schicksalstagen fällt den Kommunisten eine große Aufgabe zu. Laßt sie mit dem Volk aufrichtig sprechen, laßt sie die. Herzen der wirklichen Patrioten bewegen. Sie werden die Vorgänge erklären, und die Bevölkerung beruhigen. Mit reifem Sinn für Verantwortung werden - sie der Jugend sagen: Was Ihr mit Recht gefordert habt, das habt Ihr erreicht!
Die oberste Parteileitung ist so gut wie völlig erneuert worden. Wie neu aber ist die Parteiführung? Es genügt, zu sagen, daß alle drei Sekretäre - János Kádár, Ferenc Donáth und Gyula Kállai - jahrelang die Gefangenen des Rákosi-Despotismus waren. Als Opfer betrügerischer, Gerichtsverfahren brachten sie viele Jahre im Gefängnis zu, aus dem sie erst kürzlich entlassen wurden. Wenn irgend jemand weiß, daß der alte Weg nicht weiterverfolgt werden darf, dann sind& sie es. Lagt Euch von den Kommunisten erklären, daß jeder, der Mißtrauen gegen diese Männer verbreitet und das Volk gegen sie aufzuheben versucht, allen anderen hilft, nur nicht dem Volke.
Quelle: Lasky, Melvyn J. (Hg.): Ein Weißbuch. Die ungarische Revolution. Die Geschichte des Oktober-Aufstandes nach Dokumenten, Meldungen, Augenzeugenberichten und dem Echo der Weltöffentlichkeit, Berlin 1958, S. 97
Ich drücke mich noch enger an die rettende Säule ... Das Herz sitzt mir in der Kehle, mir wird übel...
Einer meiner Freunde liegt dicht neben mir ... Den anderen sehe ich nicht...
Vom Platz her höre ich eine Frau schreien: »Ich verblute ... Hilfe! Ich bin verwundet ... Mörder ...!« Aber niemand eilt ihr zu Hilfe. Die Angst fesselt unsere Beine...
Die zusammengedrängten Leute unter den Arkaden kämpfen zäh und unbarmherzig miteinander, um in die Mitte der Menge zu gelangen. Dort wären sie verhältnismäßig sicher. Von der Mitte drängt man die Leute wieder hinaus, und andere, die an den Rand geraten sind, versuchen wiederum, einen Platz drinnen zu erreichen. Dies alles wird von Schreien, Fluchen und Jammern begleitet.
Drei, die sich am Rande der Menge befanden, stürzen und bleiben auf dem Pflaster liegen. Eine Frau schreit hysterisch auf: »Mein Mann...! Um Gottes willen, sie haben meinen Mann getötet...! Helft mir!« Aber niemand kümmert sich um sie. Nur einige brüllen die Frau an: »Bewegen Sie sich nicht ... Bleiben Sie ruhig! Ihm können Sie ohnehin nicht mehr helfen!«
Ein dicklicher junger Mann, schneeweiß im Gesicht, schreit: »Wer hat eine weiße Fahne? Stecken wir eine weiße Fahne raus! Ergeben wir uns ...!«
Doch man winkt ab: »Sind Sie verrückt?! Wie sollen wir uns ergeben? Wir wollten niemandem ein Leid antun...! Wir kämpfen gegen niemand! Wir haben doch keine Waffen!«
Allmählich werde ich an den Rand der Menge hinausgedrängt. Auf den »Todesstreifen«, denke ich bei mir. Meine Beine zittern, und der Schweiß fließt mir in Strömen den Rücken hinunter. Ich suche mit den Augen meinen Freund und rufe ihm halblaut zu: »Wir können nicht mehr hierbleiben ...! Sie würden uns wie Hunde abknallen! «
Mein Freund gibt mir ein Zeichen. Ich folge seinem Blick und sehe, daß unter denjenigen, die an der Wand liegen, rote Bächlein auf dem Beton fließen…
»Von dem gegenüberliegenden Haus schießt man auf uns!« sagt jemand hinter mir. [...]
Vor uns steht ein russischer Panzerwagen. Ein Soldat sieht halb heraus und bedient so das Maschinengewehr. Er schießt auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses...
Jetzt trifft noch jemanden hinter uns eine Kugel. Er schreit auf und stürzt zu Boden ... Der Russe hört es, schaut zurück, springt aus dem Wagen und zieht den Verwundeten in den Schutz seines Panzerwagens. Und dann steht er wieder neben dem Maschinengewehr und setzt es erneut in Gang. [...]
Für einige Sekunden hört die Schießerei auf. Wir, mein Freund und ich, benutzen diese Atempause und rennen etwa 60 Meter weit - in einer schrecklichen Angst vor dem Tode. Wir rennen, rennen und rennen, und dann, als ich nicht mehr in der Lage bin zu denken, werfe ich mich nieder. Ich falle auf einige Leute, die im Schutz einiger dünner Bäume Deckung gesucht haben. Niemand sagt ein Wort. Nach zehn Sekunden bellt wieder ein Maschinengewehr auf. Und dann setzten die Salven erneut ein. Ich wage nicht aufzusehen ... Ich verberge mein Gesicht in den Händen ... Weiß nicht, wo mein Freund geblieben ist. Der Mann, auf dem ich liege, ein älterer Arbeiter im Overall, bittet mich mit leiser Stimme: »Wenn Sie können, liegen Sie bitte nicht auf meinem Bein ... Es tut sehr weh ...!« Ich versuche sein Bein freizubekommen. Darunter ist eine große Blutlache.
»Tut es sehr weh?« frage ich ihn und vergesse für eine Minute meine Lage. Sein Gesicht ist kreideweiß, kaum kann er seine Lippen bewegen. »Es wäre gut, es zu verbinden. Aber ich kann es nicht, ich bin viel zu schwach ... Sind Sie auch verwundet?«
Ich schüttle den Kopf. [...]
Seit ungefähr zehn Minuten liege ich unter den Bäumen, aber die Salven wollen nicht aufhören. Plötzlich erscheint auf dem Platz ein Ambulanzwagen. Mit Vollgas braust er über den Platz und bleibt wenige Meter vor unserer Baumgruppe stehen. Eine Frau im weißen Kittel und zwei Zivilisten springen heraus. Geduckt rennen sie zur Platzmitte, wo ganze Haufen Verwundeter liegen. Ununterbrochen pfeifen die Salven - aber die Frau und die zwei Männer rennen trotzdem weiter. Die Frau trägt einen Verbandkasten und die Männer eine Tragbahre.
Die Menschen erkennen ihre Helfer. Frauen und Männer schreien ihnen entgegen: »Kommt hierher ...! Helft mir...! Ich verblute doch...! Kommt ...!« Jetzt stürzt einer mit der Tragbahre. Ihn hat es erwischt. Aber die anderen beiden erreichen die Verwundeten. Und schon sehe ich, wie sie eine blutende Frau zum Ambulanzwagen tragen, unter dem Feuer der Maschinengewehre. Wie aus einem Mund brüllt jetzt der gesamte Platz: »Mörder ...! Schießt doch nicht auf die Ambulanz ...!« Aber die AVH auf den Dächern der umliegenden Häuser hört nicht auf ... Ihre Salven fegen immer weiter über den Platz.
Quelle: Gosztony, Peter (Hg.), Der ungarische Aufstand in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1966, S.222ff.