Natürlich hatte ich mir gedacht, daß ich eines Tages György Lukács treffen würde. Als Gesprächsthemen hätte ich mir - was weiß ich? - Hegels Ästhetik, den Kritischen Realismus oder Thomas Mann vorgestellt. Aber niemals hätte ich geglaubt, daß er mir zur Begrüßung sagen würde: »Lassen wir die Kultur aus dem Spiel. Es gibt wichtigere Probleme.« [...] Lukács ist Kultusminister in der Regierung Nagy.

Lukács' Sohn, seines Zeichens Ingenieur, der vor einem Jahr aus der ungarischen Planungskommission entfernt worden ist, erzählt, wie Ungarns Reichtum und Ruhm - seine Weinberge - ruiniert worden sind. Dann berichtet er, wie der Mechanismus der Produktionssteigerung in den Volksdemokratien scheinbar sehr erfolgreich wirkt, doch in Wirklichkeit steril und verderblich ist. Frau Lukács fragt nach der Entwicklung der polnischen Oktoberrevolution. [...]

Schließlich wendet sich das Gespräch dem Problem der kommunistischen Partei zu. Es scheint, daß es innerhalb der gegenwärtigen Führungsgruppe zwei Tendenzen gibt, die sich scharf bekämpfen. Die eine will eine leicht gemäßigte Linie erfolgen, die in Wirklichkeit die alte bleibt. Die andere ist revolutionär, sie will radikal mit der stalinistischen Tradition der Partei der Ungarischen Werktätigen brechen und eine ganz neue marxistische Partei schaffen. Lukács unterstützt natürlich die zweite Tendenz.

»Wer noch?«

»Nagy, Losonczy, Szánto', Donáth, Kádár ...« »Auch Kádár?« frage ich.

Der Professor versteht nicht, warum dieser Name Zweifel hervorruft.

Die neue Partei werde zunächst nicht auf schnelle Erfolge rechnen können - der Kommunismus sei in Ungarn völlig diskreditiert. Um die Partei würden sich nur kleine Gruppen fortschrittlicher Intellektueller und Schriftsteller und einige junge Leute scharen. Die Arbeiter würden die Sozialdemokraten bevorzugen. In freien Wahlen würden die Kommunisten fünf, höchstens zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Es sei möglich, daß sie nicht in der Regierung vertreten sein und in die Opposition gehen würden. Aber die Partei werde weiterleben; sie werde die Ideen bewahren; sie werde ein geistiges Zentrum darstellen; und wer weiß, was in einigen Jahren oder Jahrzehnten geschehen kann? [...]

Im Augenblick sei sie jedoch noch nicht gebildet, Dauerbesprechungen sollten der Klärung der Situation dienen. Heute konstituierten sich alle anderen Parteien, und die Kommunisten kämen wieder vierundzwanzig Stunden zu spät.

Quelle: Gosztony, Peter (Hg.), Der ungarische Aufstand in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1966, S. 284f