BILD Gábor Tánczos und Géza Losonczy im Petőfi-Kreis

Der nach dem Revolutionsdichter von 1848 Sándor Petőfi benannte Diskussionskreis entwickelte sich im Verlauf des Jahres 1956 zum wichtigsten intellektuellen Impulsgeber für die politischen Veränderungen in Ungarn. Die Ursprünge des öffentlichen Forums reichen bis in das Jahr 1955 zurück, als es zur Gründung des Bessenyei-Kreises kam. Bereits diese Namensgebung war programmatisch: Der ungarische Dichter Ferenc Bessenyei hatte sich für die Erneuerung der ungarischen Sprache und Kultur eingesetzt. Kurze Zeit später wurde der im Umfeld der staatlichen Jugendorganisation DISZ entstandene Diskussionszirkel in Petőfi-Kreis umbenannt. In dem Kreis trafen Mitglieder der kommunistischen Partei aus Politik, Wissenschaft und Kunst, Vertreter der 1948 zurückgedrängten bürgerlichen Elite sowie Studenten und Wissenschaftler zusammen. Unter der Leitung von Gábor Tánczos, eines Anhängers von Imre Nagy und Kritiker Rákosis, fanden ab Anfang 1956 regelmäßige Treffen des Kreises im Budapester Kossuth-Klub statt. Gemeinsam mit Géza Losonczy und Miklós Vásárhelyi organisierte Tánczos Diskussionen, die bislang vernachlässigte und tabuisierte Themen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen  Entwicklung Ungarns aufgriffen.
Im März 1956 trafen in dem Kreis ehemalige Aktivisten des Studentenvereins MEFESZ und des Landesverbandes der Volkskollegien NÉKOSZ zusammen. Die darauf folgende Veranstaltung des Kreises zur jugoslawischen Literatur stieß bereits auf ein wachsendes öffentliches Interesse, da sie als Sympathiebekundung für das jugoslawische Sozialismusmodell und die Ablehnung der Politik Rákosis verstanden wurde. Der Petőfi-Kreis wurde zu einem Sammelbecken für kritische Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, die mit Imre Nagy sympathisierten.
 
BILD Georg Lukács und Arpád Szakasits in der Diskussion des Petőfi-Kreises
zur Situation der Presse in Ungarn
 
Auf der im Mai 1956 stattfindenden Diskussion zu aktuellen Fragen der Ökonomie artikulierten die Teilnehmer bereits klare Forderungen an die politische Führung: die Ziele des kommenden Fünfjahresplans sollten öffentlich diskutiert und die aktuellen statistischen Daten über Zustand der ungarischen Wirtschaft veröffentlicht werden. Die Debatte zur Situation der Geschichtsschreibung mündete in die Forderung, dass insbesondere die bisherige Parteigeschichtsschreibung auf den Prüfstand gehöre und neu zu schreiben sei. Beide Debatten wurden von hunderten Interessierter besucht. Zu der Veranstaltung am 16. Juni zum Thema „Philosophie“ mit Georg Lukács als Redner kamen schließlich fast 2000 Menschen. Wegen des großen Interesses musste die Diskussion vom Kossuth-Klub in den größten Hörsaal der Budapester Universität verlegt werden. Weitere Themen, über die im Verlauf des Frühsommers 1956 in einer bislang nicht gekannten Offenheit diskutiert wurden, waren das Einparteiensystem in Ungarn sowie das bestehende Abhängigkeitsverhältnis zur Sowjetunion.
Die Atmosphäre im Kreis wurde zunehmend kritischer. Immer offener wurde die Ablösung Rákosis und Gerös sowie die Wiedereinsetzung des 1955 entmachteten Imre Nagys in seine Ämter gefordert. Als Reaktion auf diese Tendenz gerieten der Petőfi-Kreis und der ähnlich aufmüpfige Schriftstellerverband immer stärker in das Visier der Parteiführung um Rákosi.
Zu den Höhepunkten der Tätigkeit des Kreises gehörte eine Veranstaltung mit der Witwe von László Rajk, der bei einem Schauprozess 1949 zum Tode verurteilt worden war, auf der sie die Rehabilitierung ihres Mannes forderte. Laut Augenzeugenberichten waren mehrere tausend Menschen anwesend.
Auf eine ähnliche große Resonanz stieß die Diskussion über Presse und Informationswesen am 27.Juni 1956, zu der sich ca. 7000 Menschen einfanden, die die bis in die frühen Morgenstunden andauernde, lebhaft geführte Debatte wegen Platzmangels teilweise vom Hof aus mitverfolgten. Als einen Tag später, am 28. Juni, die Arbeiterproteste im polnischen Posen begannen und es bei den Auseinandersetzungen zwischen den Demonstrierenden und dem Militär Tote und Verletzte gab, solidarisierte sich der Petőfi-Kreis mit den Streikenden. Die ungarische Führung unter Rákosi verschärfte daraufhin ihre politische Kampagne gegen den Kreis mit dem Ziel seine Aktivitäten zu unterbinden.
Er wurde beschuldigt unter dem Einfluss der Nagy-Gruppe zu stehen und die internen Probleme innerhalb der Partei in die Öffentlichkeit zu tragen. Der Kreis hatte durch seine öffentlichen Zusammenkünfte in der Bevölkerung ein Bewusstsein über die Missstände in der ungarischen Gesellschaft geweckt. Immer mehr Menschen nutzten die Möglichkeit, ihre Kritik zu artikulieren und sich für Veränderungen im eigenen Land zu engagieren. Dies zeigten auch die von dem Kreis bis in den Oktober hinein organisierten Debatten über die Situation im Schul- und Erziehungswesen, in der Landwirtschaft und im Gesundheitswesen. Durch das Budapester Vorbild angeregt, kam es zur Gründung ähnlicher Kreise in weiteren ungarischen Städten: in Szombathely entsand der Vasvári-Kreis, in Debrecen der Kossuth-Kreis und in Csepel wurde eine Vortragsreihe mit Sprechern aus dem Budapester Petőfi-Kreis organisiert.
Der Petőfi-Kreis war keine homogene politische Organisation, sondern richtete sich als ein offenes Diskussionsforum an die unterschiedlichsten Gruppen der ungarischen Gesellschaft. Ähnlich heterogen war der Kreis der Personen, der die Aktivitäten koordinierte und im Einzelnen organisierte. Er trug maßgeblich dazu bei, dass sich in der ungarischen Gesellschaft ein politisches Klima des Aufbruchs und der Veränderungen etablieren konnte. Die Tätigkeit des Kreises endet mit der gewaltsamen Niederschlagung der ungarischen Revolution. Nach dem 4. November 1956 waren weitere Treffen des Kreises nicht mehr möglich. Die Organisatoren des Kreises wurden politisch verfolgt und landeten wie András B. Hegedüs und Gábor Tánczos im Gefängnis. In der offiziellen Propaganda wurde der Petöfi-Kreis fortan zur „konterrevolutionären Verschwörung“ erklärt. Sein Beispiel wirkte auch über die Grenzen Ungarns hinaus: In der DDR wurden der Leiter des Aufbau-Verlages Walter Janka sowie der Philosoph und Wegbereiter der Arbeiten von Georg Lukács Wolfgang Harich verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die SED-Führung unter Walter Ulbricht warf den beiden u.a. vor, im Umfeld des Aufbau-Verlages einen ostdeutschen Petőfi-Kreis gebildet zu haben, der „zersetzend gewirkt und der Konterrevolution in die Hände gearbeitet habe“[1].
 
Sabine Schön

 

[1] Janka, Walter, Spuren eines Lebens, Hamburg 1992, S. 271.
 
Fotos aus: Győrgy Litván, János M. Bak (Hg.), Die Ungarische Revolution 1956. Reform - Aufstand - Vergeltung, Wien 1991