Nagy wurde kurz nach der Ankunft in einen der Räume im Hauptgeschoß des Parlamentsgebäudes geleitet, wo er von einem Fenster aus zu den Men­schen sprechen sollte. Mittlerweile war es fast 21 Uhr geworden und die Menge war schon so groß, daß nicht alle den Redner wirklich hören konnten, obwohl auf dem Platz Lautsprecher installiert worden waren. Als Nagy an das offene Fenster trat, sah er sich mit einer ihm völlig unbekannten Kraft konfrontiert. Im Frühjahr 1957 sagte darüber:

»Erst als ich die Stimmung auf dem Platz wahrnahm, wurde mir klar, daß man etwas ganz anderes sagen muß als das, was ich mir vorgestellt hatte, denn das würde die Menge nicht befriedigen.«

Nach der eigenen und der Erinnerung anderer hielt er eine improvisierte Rede, in der er sich freilich weder vom gedanklichen Kern noch von der Diktion sei­nes vorbereiteten Textes allzuweit entfernte. Das kam symbolhaft schon durch die Anrede »Genossen!« zum Ausdruck. Die Antwort aus der Menge war zwar nicht generell negativ, doch zumeist ablehnend. Nagy erinnerte sich, daß »ein Teil der Anwesenden - es war der geringere Teil - >pfui!< rief, aber die Masse hat mich hochleben lassen.« Jene dagegen, die auf dem Platz mit dabei waren, berichten von viel eindeutigeren Reaktionen: von einem Pfeifkonzert und von Sprechchören, die »Wir sind keine Genossen!« und »Genossen gibt es nicht!« skandierten. Nagy versuchte sich zu korrigieren und probierte es mit »Liebe junge Freunde!«, aber aus der Menge rief man ihm zu: »Ganz Budapest ist hier!« und »Die Nation ist hier!« Die Stimmung der schon seit Stunden hoffnungsvoll und ungeduldig wartenden Menge schlug um, man war verwirrt, enttäuscht und reagierte sogar feindselig.

Nagy begrüßte die »ungarische demokratische Jugend«, die mit ihrem Aufbegehren die Hindernisse, »die der Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie im Wege stehen«, beseitigen wolle. Er appellierte an ihre Nüchternheit und ihr Verantwortungsbewußtsein, ohne die »unsere demokratischen Errungenschaften« in Gefahr geraten könnten. Nagy äußerte, woran er fest glaubte, daß »die Möglichkeit der Entfaltung in der Verhandlung und Klärung innerhalb der Partei« läge und daß es deshalb »das Wichtigste [sei], Nüchternheit zu bewahren«. Er versprach, daß das Zentralkomitee und die Regierung bald die zur »Entfaltung« notwendigen Maßnahmen treffen würden. Nagy hoffte offenbar, daß er und die Parteiopposition bald in der Lage sein würden, eine solche Entwicklung herbeiführen zu können.

Nagy wurde laufend von lärmenden Zurufen, Gemurre und Pfiffen unterbrochen, obwohl seine Rede rhetorisch gar keine schlechte Leistung war. Doch am gegebenen Ort und in jenem Moment war sie gänzlich unbefriedigend und zeigte schließlich nur Nagys tiefe Bestürzung, seine Besorgnis und Verunsicherung angesichts der Unberechenbarkeit der ihm unbekannten Kraft, die sich auf dem Platz manifestierte. Die Menge auf dem Kossuthplatz wollte Veränderungen und überzeugende und sie beruhigende Aussagen darüber hören, daß diese auch durchgesetzt würden. Das war auch Nagy klar. Nicht verstanden hatte er aber, daß die Demonstranten nicht auf einen Parteifunktionär gewartet hatten, der ihnen im Namen des Zentralkomitees, der Regierung und der längst abgewirtschafteten Gremien des Parlaments Veränderungen versprach, sondern auf den Auftritt eines Mannes vom Format eines Lajos Kossuth, der der Situation angemessen in der Manier des Helden der März-Revolution von 1848, Petöfi, mit einem heiligen Schwur bekräftigte, daß er alles nur Erdenkliche tun werde, damit ihre Forderungen verwirklicht würden. Die Menschen erwarteten von Nagy, daß er ihnen den Sieg versprechen und um ihre Unterstützung im Kampf dafür werben würde, worauf sie dann aus vollem Herzen wie mit einer Stimme hätten antworten können: »Wir sind dabei!« Nagy sagte: »Es gibt Leute, die sich an die Spitze der Bewegung stellen werden«, anstatt zu sagen, was seine Zuhörer erhofften: »Ich stelle mich an die Spitze«. Seine einzige, den Erwartungen entsprechende Geste war, daß er zum Schluß die Menschen aufforderte, gemeinsam die Nationalhymne zu singen. Und das reichte schon aus, damit die Menge sich, wenn auch etwas enttäuscht, langsam vom Platz entfernte.

Kaum war Nagy zurück im Büro des Vizepremiers Ferenc Erdei, kam auch schon die Nachricht von einem Schußwechsel beim Rundfunkgebäude. Nagys erster Gedanke war, unverzüglich hinzufahren, was ihm aber von den anwesenden Politbüromitgliedern ausdrücklich verboten wurde. Nagy ging in ihrer Begleitung, diesmal zu Fuß, in die drei bis vier Minuten entfernt liegende Parteizentrale in der Akadémia utca hinüber, wohin ihm von den »Gesinnungsfreunden« außer seinem Schwiegersohn keiner mehr folgte. Der Bruch zwischen Nagy und dem inneren Kern der Parteiopposition war vollzogen.

Quelle: János M. Rainer, Imre Nagy – Vom Stalinisten zum Märtyrer der ungarischen Volksaufstandes. Eine politische Biographie 1896-1958. Mit einem Geleitwort von György Konrád. Eine Gemeinschaftspublikation des Instituts für die Geschichte der Ungarischen Revolution 1956, Budapest, und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin. Mit freundlicher Unterstützung des Außenministeriums der Republik Ungarn, Paderborn 2006, S. 125-126.