Die Erinnerung an die Aufstände von 1953 und 1956 in Berlin und Budapest
von Jürgen Danyel, aus: ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2007, S. 71-84.
Die Jahrestage wichtiger historischer Ereignisse vermögen es immer wieder ganze Gesellschaften in ihren Bann zu ziehen. Die aus ihrem Anlass im öffentlichen Raum ausgebreiteten und medial verstärkten Erinnerungslandschaften liefern Nahrung für eine geschichtshungrige Gegenwart. Der Magie der runden Zahlen können sich auch Historiker nicht entziehen, obwohl sie es sich, glaubt man ihrer Rhetorik, immer wieder vornehmen. Längst schon sind sie selbst ein Teil der immer weiter ziehenden Geschichtskarawane geworden, die von Gedenktag zu Gedenktag eilt. Als Autoren von pünktlich zum Datum erscheinenden Monographien, als Berater von Film-, Fernseh- und Rundfunkproduktionen, mit eigenen Vortragstourneen, als Feuilletonisten in den großen Tageszeitungen und als direkte Nutznießer der anlässlich von wichtigen Jahrestagen ausgeschütteten Fördergelder sind sie schon lange Teil einer boomenden public history. Die einstigen Elfenbeintürme der Forschung, in denen man sich wenig um die Eskapaden der öffentlichen Erinnerung mit ihrer Sehnsucht nach Tradition, Bindung und moralischem Rückhalt sowie den damit verbunden Gedenkritualen kümmern brauchte, gibt es nicht mehr oder bestenfalls noch in einzelnen Nischen. Sie verfügen inzwischen über großflächige Schaufenster, die von den professionellen Geschichtsschreibern selbst dekoriert werden.
Kaum jemand wird bestreiten, dass Jahrestage auch als Katalysatoren für die historische Forschung und die historisch-politische Bildungsarbeit wirken können. Mit ihnen werden wichtige Themen der Geschichte in ein breiteres öffentliches Bewusstsein gerückt. Skepsis stellt sich indes ein, wenn man die Folgen dieser Konjunkturspiralen des Gedenkens bedenkt: Themen sind oft für Jahre »verbrannt«. Kaum ein Verlag ist nach einem wichtigen Jahrestag noch bereit, ein verspätetes Buch zum Ereignis herauszubringen. Bei kaum einer Stiftung bringt man im Folgejahr einen Antrag zum »verbrauchten« Thema unter. Oft hilft dann nur das geduldige Warten auf die nächste Gelegenheit: Spätestens in fünf oder zehn Jahren gibt es eine neue Chance. Die Recycling- und Verwertungsmaschinerie wird erneut angeworfen und suggeriert uns als vergesslichen Zeitgenossen, ein bestimmtes historisches Ereignis werde nun zum ersten Mal umfassend erinnert oder begleitet von »sensationellen« Dokumentenfunden neu interpretiert.
Blickt man auf die Zeitgeschichte, so lässt sich schnell ausmachen, wer neben den Historikern zu den Profiteuren dieses Booms der öffentlichen Erinnerung gehört, nämlich die Zeitzeugen. Sie sind inzwischen zu einer Macht geworden, die dem quellenkritischen Bewusstsein der professionellen Historiographie immer neue Schweißausbrüche beschert. Zeitzeugen sind zu universellen Gewährsleuten einer allgemeinen Sehnsucht nach dem Authentischen geworden. Die von Historikern immer wieder gern gescholtenen Fernsehdokumentationen aus dem Hause Guido Knopp mit ihren entkontextualisierten und beliebig mischbaren Zeitzeugensequenzen haben längst ihren exzeptionellen Status eingebüßt und sind inzwischen Teil eines breiten mainstreams der Geschichtsserien, Dokudramen, Spielfilme mit zeithistorischen Stoffen geworden.
Es wäre spannend diesen, durch die verschiedenen Erinnerungswellen bewirkten Veränderungen in der Arbeitsweise von Zeithistorikern und der öffentlichen Präsentation ihrer Forschungsergebnisse etwas genauer nachzugehen. Zumal die hier zur Debatte stehenden 50. Jahrestage des 17. Juni 1953 und der Ungarischen Revolution von 1956 die strukturierende Macht von Jubiläen für die Forschung sowie die genannten Verschiebungen in der Logik von Forschung und im professionellen Selbstverständnis der Zeithistoriker bestätigen. Inzwischen wächst innerhalb der zeithistorischen Forschung ein kritisches Bewusstsein, dass diese Entwicklung in den Blick nimmt und eine stärkere Selbstreflexion der Zunft anmahnt.
Dieser Spur soll hier nicht weiter nachgegangen werden, allerdings muss sie als ein wichtiger, das Erinnerungsgeschehen dynamisierender Faktor mitgedacht werden.
Die genannten Jubiläen sind jedoch noch in einer anderen Perspektive von Interesse, mit der man die mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Konflikte, Debatten und Auseinandersetzungen in den Blick nimmt. Die Gedenkjahre, 2003 in Deutschland und 2006 in Ungarn, waren traumatischen Schlüsselereignissen in der Geschichte kommunistischer Diktaturen gewidmet. Traumatisch waren die mit dem 17. Juni 1953 und dem ungarischen Herbst 1956 verbundenen Erfahrungen in mehrfacher Hinsicht. Sie waren es für die Aufständischen, die der militärischen Gewalt unterlagen, ebenso wie für die Regime, denen der durchlebte zeitweilige Machtverlust und der Hass großer Teile der Bevölkerung noch Jahrzehnte in den Knochen saß.
Im Folgenden soll daher in vergleichender Perspektive der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern es sich bei den beiden Jahrestagen um einen clash of memories handelt, welches die Topoi, Akteure und Schauplätze dieser Erinnerungskonflikte in beiden Ländern waren. Berücksichtigt werden soll dabei, inwiefern diese Konfliktlagen des öffentlichen Gedenkens in beiden Ländern durch geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Konstellationen aus der Zeit vor 1989 vorkonfiguriert waren. Schließlich ist nach dem Zusammenhang der zur Debatte stehenden Erinnerungskonflikte mit der Reichweite und den Verlaufsformen der gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Ungarn und im östlichen Teil Deutschlands zu fragen. Dies gilt besonders für den Charakter und die Nachhaltigkeit des mit der Transformation nach 1989 verbunden Elitenwechsels.
Die beiden Jahrestage des Aufbegehrens der Bevölkerungen gegen das kommunistische Herrschaftssystem, die 50. Wiederkehr des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR und der Ungarischen Revolution von 1956 spiegeln den geschilderten Trend einer boomenden und zunehmend medialisierten Erinnerung im öffentlichen Raum. An beiden Jahrestagen wurden die historischen Ereignisse und die sozialen und politischen Protestbewegungen in einer Breite und Intensität in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerufen, die alles Bisherige bei weitem übertraf. Diese Erinnerungswelle of high intense erfasste nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche: Die zeithistorische Forschung konnte in beiden Ländern die Ergebnisse umfangreicher Forschungen vorlegen und lieferte punktgenau eine kaum noch zu überschauende Flut an Gesamtdarstellungen, Quelleneditionen und biographische Studien. Hinzu kamen konkurrierende nationale und internationale Tagungsprojekte, zahllose Podiumsdiskussionen und Vorträge zum Thema. Die Medien flankierten die Ereignisse mit aufwändigen Artikelserien und Zeitzeugenporträts; allein im Umfeld des Jahrestages der Ungarischen Revolution erschienen beispielsweise in der überregionalen deutschen Presse über 60 größere themenbezogene Beiträge. Im deutschen Fernsehen liefen jeweils mehrere produzierte Dokumentarfilme, von den Wiederholungen älteren Materials ganz zu schweigen.
Aus Anlass des 50. Jahrestages des 17. Juni 1953 wurden 2003 in nahezu allen wichtigen ostdeutschen Städten, die 1953 zu den Zentren der Protestbewegung gehörten, größere Ausstellungsprojekte realisiert, so in Jena mit »Der Schrei nach Freiheit – 17. Juni 1953« in der Stiftung Ettersberg, in Halle mit »Der 17. Juni 1953 in Halle – ein Tag der Zivilcourage« im Landtag von Sachsen-Anhalt, mit »Volksaufstand. Der 17. Juni 1953 in Bitterfeld-Wolfen« im Chemiepark Bitterfeld Wolfen, mit der »Der 17. Juni in Magdeburg« im Kulturhistorischen Museum der Stadt und »Freiheit wollen wir! Der 17. Juni in Brandenburg« in der Potsdamer Gedenkstätte Lindenstrasse – um nur die wichtigsten zu nennen.
Zu allen Projekten erschienen umfangreichere Begleitpublikationen. Blickt man auf Ungarn im Jahr 2006 ergibt sich ein ähnlich dichtes und facettenreiches Bild: Allein in Budapest veranstalteten das eigens für den Jahrestag gebildete Staatliche Komitee, das Militärhistorische Museum, das Haus des Terrors, die Kunsthalle, das Ungarische Haus der Fotografie, der Denkmalspark und eine Reihe weiterer Institutionen jeweils Ausstellungen bzw. Open Air Dokumentationen und Gedenkinstallationen.
Die neue Dimension und Breite der Erinnerung an die Aufstände von 1953 und 1956 wird deutlich, wenn man im Kontrast dazu die ersten wichtigen Jahrestage beider Ereignisse nach dem Ende des Kommunismus, also die Gedenkjahre 1993 und 1996, in den Blick nimmt. Letztere hatten zunächst eine ganz elementare Funktion: Die Aufstände wurden nach einer langen Zeit der offiziellen Tabuisierung und Verdrängung aus dem öffentlichen Bewusstsein erneut in den Kanon der nationalen Erinnerung zurückgerufen. Ganz im Sinne dieses Dammbruchs der Erinnerung lassen sich die Statements einer 1993 wenige Tage vor dem 40. Jahrestag veranstalteten Podiumsdiskussion zum 17. Juni 1953 lesen: Lutz Niethammer konstatierte, es könne nun »in ganz Deutschland freier, sachnäher – und aus Primärquellen schöpfend« über die Ereignisse gesprochen und geforscht werden. Der ebenfalls anwesende Arnulf Baring meinte immer noch zu träumen, »dass wir hier in Potsdam sitzen und über den 17. Juni offen diskutieren können«. Beide Aufstände erfuhren eine grundlegende Neubewertung, die symbolisch in politischen Gedenkreden und -zeremonien untermauert wurde. Im Vordergrund stand dabei die politische Abgrenzung von der überwundenen kommunistischen Vergangenheit und die öffentliche Darstellung der Ereignisse nach Jahrzehnten des erzwungen Schweigens. Der 17. Juni 1953 und die Ungarische Revolution von 1956 gerieten in den Fokus der zeithistorischen Forschung, die die Untersuchung der politischen Rahmenbedingungen der Aufstände in ihr Programm der Offenlegung der Herrschaftsstrukturen und -praktiken der sozialistischen Diktaturen integrierte. In Deutschland wurde der 17. Juni 1953 in den folgenden Jahren zu einem der Schwerpunkte in der historiographischen Aufarbeitung der SED-Vergangenheit. In Ungarn wurde die Erforschung der Revolution von 1956 zu einem Motor für die Etablierung einer modernen, international vernetzten Zeitgeschichtsschreibung. Das Budapester 56er Institut, auch wenn dessen Existenz aus politischen Gründen gelegentlich gefährdet war, spiegelt diese Entwicklung sehr deutlich. Es begannen in beiden Ländern großflächige Initiativen zur Erschließung der Quellen.
Im ungarischen Fall liegt die eigentliche Zäsur für die Rückgewinnung der eigenen Geschichte allerdings bereits im Jahr 1989, als auf dem Budapester Heldenplatz 200.000 Menschen der von der ungarischen Opposition ausgerichteten fünfstündigen Bestattungszeremonie für Ministerpräsident Imre Nagy, Staatsminister Géza Losonczy, Verteidigungsminister Pál Maléter, den Journalisten Miklós Gimes und Nagys Sekretär Joszef Szilagyi beiwohnten. Die Tatsache, dass die prominenten, 1958 hingerichteten Führungsfiguren der Revolution von 1956 zusammen mit zahlreichen weiteren hingerichteten Teilnehmern des Aufstandes jahrzehntelang unter falschen Namen in der Parzelle 301 in einer abgelegenen Ecke des neuen Städtisches Friedhofs verscharrt lagen, wurde zu einem wichtigen Anstoß für das Ende des Kádár-Regimes und den Systemwechsel in Ungarn. Es ist eine Ironie der Geschichte, das just an dem Tag, an dem der Oberste Gerichtshof Ungarns sein Urteil zur Aufhebung der im »Strafprozess gegen Imre Nagy und seine Komplizen« gefällten Urteile und damit zur Rehabilitierung der Märtyrer von 1956 verkündete, die Nachricht vom Tod János Kádárs in den Raum platzte. Im Vergleich dazu – dies sei hier nur nebenbei festgehalten – war der 17. Juni 1953 für die friedliche Revolution in der DDR und deren Akteure keine symbolische Bezugsgröße. Umso interessanter ist deshalb die Tatsache, dass der fast vierzig Jahre zurückliegende Aufstand umso stärker bei der SED-Machtelite präsent war, als sie sich mit den Bevölkerungsprotesten im Herbst 1989 konfrontiert sah. Bekanntermaßen fragte Stasi-Chef Mielke am 31. August 1989 angesichts der angespannten Lage in der DDR in die Runde seiner Untergebenen: »Ist es so Genossen, dass morgen der 17. Juni 1953 ausbricht?«
Die neue Qualität des Gedenkens von 2003 und 2006 zeigt sich nicht nur in der bereits erwähnten Intensität öffentlicher Erinnerung und in der überwältigenden Präsenz der Aufstände in den Medien. Auffällig ist bei allen Unterschieden in beiden Fällen vor allem ein Perspektivwechsel der Erinnerung:
1. Das Interesse verlagerte sich von den Krisenprozessen im Herrschaftssystem und den Reaktionen der politischen Machtelite sowie der sowjetischen Besatzungsmacht hin zu den eigentlichen Akteuren der Aufstände, ihrem konkreten Handeln, ihren Motiven und Beweggründen, ihren Zielen und Erwartungen. In der zeithistorischen Forschung setzte sich analog eine stärker sozial- und erfahrungsgeschichtlich geprägte Sicht auf die Aufstände durch.
2. Die Erinnerung fokussierte sich nicht mehr allein auf die Ereignisse in den nationalen Machtzentren, sondern zielte auf eine Regional- und Lokalgeschichte der Aufstände. Die vormals stark auf Berlin und Budapest gerichtete Betrachtung wurde durch eine breitere Perspektive abgelöst, die die landesweite Ausdehnung der Protestbewegungen und ihre regionale Dynamik in den Blick nahm. Bezogen auf den 17. Juni 1953 zeigt sich dieser Perspektivwechsel besonders deutlich auf der begrifflichen Ebene: Die Rede war nunmehr von einem das ganze Land erfassenden »Volksaufstand« gegen das SED-Regime, statt wie bisher von einem auf Berlin konzentrierten »Arbeiteraufstand«.
3. Im Mittelpunkt der Erinnerung stand nicht mehr in erster Linie die symbolische Distanzierung von der kommunistischen Vergangenheit, sondern eine auf die Integration der Transformationsgesellschaften zielende positive Traditionsbildung.
Welche politischen und erinnerungskulturellen Konfliktlinien prägten die beiden Jahrestage? Trotz aller beschriebenen Ähnlichkeiten zwischen dem ungarischen und dem deutschen Fallbeispiel zeigen sich gerade hier deutliche Unterschiede:
Die Hoffnung der Organisatoren, dass die staatlichen Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Ungarischen Revolution einen Beitrag zur inneren Einigung der politisch und sozial tief gespaltenen ungarischen Gesellschaft leisten könnten, ging nicht auf. Im Gegenteil: Dies wurde spätestens klar, als sich die in der Budapester Innenstadt mit Laienschauspielern, historischen Militärfahrzeugen und großformatigen Fotobannern ausstaffierten Erinnerungslandschaften am 23. Oktober 2006 in ein Szenario der Straßenschlachten zwischen überwiegend jugendlichen Demonstranten und der Polizei verwandelten. In weiten Teilen der Bevölkerung hatte sich ein diffuses Gefühl der Enttäuschung, Frustration und Wut über die politische und soziale Situation im EU-Beitrittsland Ungarn breit gemacht. Die Unzufriedenen bemächtigten sich der Symbole und Rituale von 1956 und richteten sie gegen das herrschende politische Establishment. Zum Sinnbild dieser spontanen Umwidmung des Gedenkens zu einer bürgerkriegsähnlichen innenpolitischen Auseinandersetzung wurde ein Vorfall, der sich am frühen Abend in der Budapester Innenstadt abspielte: Demonstranten war es gelungen, einen der anlässlich des Jahrestages ausgestellten Museumspanzer wieder flott zu machen. Begleitet von einem Fahnen schwenkenden Trupp teilweise vermummter Demonstranten setzte sich der sowjetische Panzer vom Typ T-34 in Richtung Parlamentsviertel in Bewegung, wo am Abend die offiziellen Gedenkfeierlichkeiten stattfinden sollten. Am Steuerknüppel des Panzers saß – auch dies in seiner Symbolik kaum zu überbieten – ein Veteran des Aufstandes von 1956. Der Polizei gelang es nur mit Mühe und unter Einsatz von Tränengas das Fahrzeug zu stoppen. Die zentralen Feierlichkeiten der ungarischen Regierung und die Einweihung des neuen Denkmals für den Aufstand am Városliget – hier stand 1956 das am 23. Oktober gestürzte Stalin- Denkmal – fanden angesichts der Demonstrationen hinter dichten und weiträumigen Polizeiabsperrungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Eine Gegenkundgebung der oppositionellen »Partei der Jugend« FIDESZ mit ihrem Vorsitzenden Viktor Orbán, auf der erneut der Rücktritt von Premier Ferenc Gyurcsány gefordert wurde, hatte am Nachmittag die Stimmung zusätzlich angeheizt. Bis in die Nachtstunden kam es an der Budapester Elisabethbrücke zu Straßenschlachten zwischen Demonstranten und der Polizei. Insgesamt wurden 128 Personen bei den Auseinandersetzungen verletzt. Hundert, unter ihnen auch der tollkühne Fahrer des T-34, wurden verhaftet. Noch in den Nachtstunden wurden vorsichtshalber weitere in der Stadt aufgestellte historische Militärfahrzeuge eilig zurück in die Museumsdepots gebracht.
Die innenpolitische Spannung der ungarischen Gesellschaft hatte sich bereits Wochen vor dem Jahrestag im Zusammenhang mit der so genannten »Lügenaffäre« um Premier Gyurcsány abgezeichnet. Als publik geworden war, dass der Premier die ungarische Bevölkerung über das wahre Ausmaß der Finanzkrise Ungarns getäuscht hatte, kam es zu gewalttätigen Protesten, an denen sich zunehmend rechtsextreme Jugendliche beteiligten. Bereits hier bewiesen die Protestierer ein Gespür für historische Analogien und belagerten das Gebäude des Ungarischen Rundfunks und beschädigten das Sowjetische Ehrenmal.
Der 50. Jahrestag von 1956 offenbarte insofern mehrere sich wechselseitig überlagernde Konfliktkonstellationen:
1. Die Erinnerung an 1956 wurde zur Projektionsfläche für die politische Auseinandersetzung zwischen der regierenden Sozialistischen Partei MSzP als sozialdemokratisch gemäßigter Nachfolgeorganisation der ehemaligen Staatspartei und der konservativen Opposition. Die politische Instrumentalisierung von 1956 bot den Gegnern der Regierung Gyurcsány eine Möglichkeit, die herrschenden Sozialisten unter Verweis auf den ausgebliebene Elitenwechsel in die Kontinuität zur kommunistischen Vergangenheit zu rücken. Dabei bediente sich insbesondere auch die FIDESZ des symbolischen Rückgriffs auf Traditionsbestände aus der Zeit vor 1945, wovon die zahlreichen einst von den ungarischen Pfeilkreuzlern benutzten weiß-roten »Arpad-Fahnen« und die rechtsextreme Klientel auf den Gegenkundgebungen in Budapest zeugten. Der Jahrestag offenbarte damit zugleich Defizite in der kritischen Aufarbeitung der ungarischen Vergangenheit zwischen 1933 und 1945.
2. Eine vom Verlauf und den Ergebnissen der politischen und wirtschaftlichen Transformation in Ungarn enttäuschte Bevölkerung bediente sich des symbolischen Arsenals der Ungarischen Revolution von 1956, um ihre Unzufriedenheit mit der Entwicklung zu artikulieren. Die politisch diffusen Proteste waren anfällig für nationalistische, antidemokratische und antieuropäische Töne.
3. Es kam zu einem bereits im Vorfeld des Jahrestages sichtbaren Konflikt unterschiedlicher erinnerungskultureller Milieus über die angemessen Formen und Rituale des Erinnerns. Regierung, Opposition und die verschiedenen Opferverbände hatten es nicht vermocht, sich auf eine gemeinsame zentrale Gedenkveranstaltung zu einigen. Deutlich wurde diese erinnerungskulturelle Kluft in der ungarischen Gesellschaft in der öffentlichen Debatte um das bereits erwähnte neue Denkmal für die Ungarische Revolution. Besonders die Opfer- und Veteranenverbände liefen gegen das in seiner Formensprache moderne Denkmalsensemble Sturm. Das Denkmal besteht aus einer Reihe von Stahlstelen. Sie verdichten sich zu einem Keil, dessen Spitze sich in das Straßenpflaster rammt. Im Ergebnis der Proteste gegen die »Bürste«, wie der Volksmund das neue Denkmal spöttisch taufte, wurde mit staatlichen Mitteln ein zweites, von den Opferverbänden akzeptiertes eher traditionelles Denkmal in Form eines Freiheitsengels auf dem Gelände der Budapester Technischen Universität aufgestellt.
4. Anlässlich des Jahrestages zeigte sich eine starke Polarisierung der Positionen innerhalb der ungarischen Historiographie. Sie betraf insbesondere die grundsätzliche Bewertung des Charakters der ungarischen Revolution sowie die Beurteilung der Rolle von Imre Nagy und seines Kabinetts. Als institutionelle Antipoden standen sich dabei das bereits erwähnte 56er Institut und das von Maria Schmidt geleitete »Haus des Terrors« gegenüber. Die Deutungen in dieser Kontroverse bewegten sich zwischen der Interpretation von 1956 als antikommunistische bürgerliche Revolution bzw. der Einbettung des Aufstands in eine reformkommunistische Tradition.
Eine vergleichbare Spaltung der Erinnerung lässt sich für den 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 in Deutschland im Jahre 2003 nicht ausmachen. Die Gedenkveranstaltungen spiegelten eher einen Konsens innerhalb der deutschen Gesellschaft. Vergleicht man etwa die geschichtspolitischen Stellungnahmen der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, so überrascht die durchaus ähnliche Bewertung des Volksaufstandes innerhalb des Parteienspektrums. Unterschiede lassen sich hier bestenfalls in den Akzentsetzungen ausmachen, etwa wenn die PDS den Aufstand stärker in eine Traditionslinie der sozialen Proteste einordnet und die Rolle des Westens für die Dynamik der Bewegung betont. Der 17. Juni 1953 eignet sich offenbar nicht als historische Projektionsfläche für die gegenwärtigen sozialen Konflikte in der deutschen Gesellschaft oder gar des Ost-West-Gegensatzes. Im Bereich der zeithistorischen DDR-Forschung lassen sich anlässlich des Jahrestages ebenfalls keine nennenswerten Kontroversen ausmachen. Die Trägerschichten und Erinnerungsmilieus der alten SED-Deutung des 17. Juni 1953 als faschistischer, vom Westen gesteuerter Putsch sind in der deutschen Gesellschaft weitestgehend marginalisiert. Entsprechende Deutungsansätze in der DDR-Historiographie waren bereits im Zuge des Umbruchs von 1989 obsolet geworden. Anders im ungarischen Fall: Viele Ungarn haben nach wie vor eine positive Meinung zu Kádárs »Gulaschkommunismus«. Dies erschwert die öffentliche Auseinandersetzung mit Kádárs Rolle während des Aufstands von 1956 sowie bei der politischen Abrechnung mit Imre Nagy. Die retrospektive Identifikation vieler Ostdeutscher mit der DDR speist sich indes kaum aus Reminiszenzen an die frühe stalinistische DDR, sondern eher aus dem Verlust des Sozial- und Fürsorgestaats der späten Jahre. Die von der SED betriebene Legitimation der Niederschlagung des Aufstandes mit dem Antifaschismus ließ sich schon zu Lebzeiten der DDR kaum glaubhaft vermitteln. Selbst im erinnerungskulturellen Kontext einer gewissen DDR-Nostalgie spielt sie deshalb kaum eine nennenswerte Rolle.
Genau genommen lässt sich die Erinnerung an den 17. Juni 1953 in der deutschen Vereinigungsgesellschaft – um bei dem Bild des Titels zu bleiben – eher als ein clash of white patterns betrachten. Dies wird deutlich, wenn man die deutsch-deutsche Situation vor 1989 in den Blick nimmt: Sowohl im Osten als auch im Westen war die Erinnerung an den 17. Juni 1953 allmählich verblasst. In der DDR wurde der Aufstand über Jahrzehnte tabuisiert, seine Akteure wurden das Opfer politischer Verfolgung oder gingen in den Westen. Im Unterschied zu Ungarn, wo die Tradierung einer Gegenüberlieferung zu 1956 ein politischer Orientierungspunkt der Opposition blieb, war der 17. Juni 1953 nicht zuletzt aufgrund seiner beiderseitigen politischen Instrumentalisierung im Kalten Krieg für die DDR-Opposition der 1970er- und 1980er-Jahre kaum ein Thema. Im Westen verlor der offizielle Feiertag seine deutschlandpolitische Brisanz: Aus der »Einheit in Freiheit« war die »Einheit in der Freizeit« geworden. Der Erinnerungsboom von 2003 lässt sich sicherlich auch mit diesem Umstand erklären. Das neu erwachte gesellschaftliche Interesse an dem Volksaufstand füllt jene Lücke, die die deutsch-deutsche Konstellation des Vergessens vor 1989 hinterlassen hatte. Zu beobachten ist neuerdings der Versuch, den 17. Juni 1953 als einen politischen Gedenktag gegen die reale oder vermutete Ostalgie in den neuen Ländern zu profilieren. Seine Kraft als mögliches Bindeglied einer neuen gemeinsamen deutsch-deutschen Erinnerung wird sich auch hierbei erst noch beweisen müssen.
Insgesamt lassen sich bei allen Ähnlichkeiten in den Verlaufsformen der Jahrestage in Ungarn und Deutschland, deutliche Unterschiede ausmachen: Sie betreffen den Grad und die Reichweite der gesellschaftlichen Konflikte, die die Erinnerung an die Aufstände begleitet haben. Während in Ungarn die öffentliche Erinnerung an 1956 von sehr unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Positionen bestimmt wird, herrscht in Deutschland ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens hinsichtlich der historischen Bewertung des 17. Juni 1953. Dies hängt nicht zuletzt mit den Verlaufsformen der Transformation und dem unterschiedlichen Grad des Elitenaustausches in beiden Ländern zusammen. Die Instrumentalisierung der Erinnerung für aktuelle soziale und politische Konflikte war im ungarischen Fall stark ausgeprägt. Sie lässt sich jedoch nicht als ein dauerhafter Trend ausmachen. In Deutschland spielten solche Versuche der Instrumentalisierung kaum eine Rolle.
Zur Erklärung der Unterschiede in den Erinnerungslandschaften beider Länder müssen neben den unterschiedlichen Verlaufsformen der Transformation auch die erinnerungskulturellen Konstellationen aus der Zeit vor 1989 herangezogen werden. Während im ungarischen Fall die Revolution von 1956 bis zum Ende des Kommunismus ein wichtiger symbolischer Bezugspunkt verschiedener Gruppen in der Gesellschaft blieb, verlor der 17. Juni 1953 in der Zeit vor 1989 allmählich seine politische Brisanz als Projektionsfläche sowohl für die inneren Auseinandersetzungen in der DDR-Gesellschaft als auch für den deutsch-deutschen Konflikt. Insofern ist das neu erwachte breite Interesse an dem Aufstand kein Zufall, sondern vielmehr die Folge des Vergessens.