Popkultur als Erinnerungspolitik: 60 Jahre Ungarn 1956

von Árpád v. Klimó

Bis zu seinem triumphalen Wahlsieg 2010 benutzte Viktor Orbán die Erinnerung an das Jahr 1956 in der Regel dazu, die Sozialistisch-Liberale Regierung unter Ferenc Gyurcsány[1] als „Landesverräter“ zu verunglimpfen, die in der Tradition der kommunistischen Unterdrücker der ungarischen Nation stünden. Zum 50. Jahrestag im Jahr 2006 kam es zu teilweise gewalttätigen Demonstrationen vor dem Budapester Parlament. Rechtsradikale Hooligans stürmten den staatlichen Fernsehsender in einer absurden „Wiederholung“ der anti-sowjetischen und anti-stalinistischen Revolution von 1956. Diesmal allerdings in einem demokratischen Land, das kurz zuvor Mitglied der Europäischen Union geworden war. Ausgelöst wurden die Demonstrationen durch eine geleakte Rede des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, in der dieser vor einer kleinen Gruppe sozialistischer Parteifunktionäre gesagt hatte, dass seine Partei das Land in der Vergangenheit systematisch belogen habe.

Inzwischen ist Ungarn ein anderes Land. Orbáns Partei Fidesz kontrolliert nach zwei gewonnenen Wahlen das Parlament und stellt die Mehrheit der Bürgermeister des Landes. Die staatlichen Medien, TV, Radio und Zeitungen, sowie das Verfassungsgericht stehen unter Aufsicht Orbáns, der zudem eine neue Verfassung eingeführt hat. Die Sozialisten und Liberalen, die Ungarn einst regierten, sind zersplittert, dezimiert, marginalisiert. Die einzige verbliebene Oppositionspartei ist Jobbik, eine rechtsradikale Partei, die sich zuletzt bemüht hat, sich ein gemäßigteres Image zu geben. Mit den Nachbarstaaten und besonders mit Polen hat Ungarn seit dem Wahlsieg der konservativen Kaczynski-Partei beste Beziehungen. Die Europäische Union und die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten wurden in den vergangenen Jahren zum Hauptfeind Ungarns erklärt, während man mit Putins autoritärer Regierung kooperiert.
Die schwache Beteiligung von 43 % am Referendum gegen die Festsetzung von Flüchtlingsquoten durch die EU am 3. Oktober 2016 zeigt jedoch, dass die Regierung bei der Mobilisierung ihrer Bürger an Grenzen stößt.

Die Verschiebungen  innerhalb der politischen Landschaft Ungarns schlägt sich auch in der offiziellen Erinnerungspolitik nieder, die weitgehend von Mária Schmidt, der Leiterin des äußerst erfolgreichen Budapester Museums „Haus des Terrors“ und Direktorin mehrerer Stiftungen (20. Jahrhundert, 21. Jahrhundert, Kommunismusforschung), bestimmt wird. Schmidt ist derzeit auch Vorsitzende des Kommittees, das die Jubiläumsfeiern zum 60. Jahrestag von 1956 organisiert. Vor zwei Jahren hat sie die staatlichen Gedenken an den Holocaust, den deutschen Einmarsch in Ungarn (19. März 1944) und den Ersten Weltkrieg organisiert, was zeigt, dass die Regierung eine breit angelegte Geschichts- und Erinnerungspolitik betreibt.

Eines der politischen Ziele der 60-Jahr-Feiern der Revolution von 1956 war es, so Mária Schmidt, die „Jugend“ zu erreichen. Viktor Orbán forderte vor diesem Hintergrund ein Gedenken, das „fancy, sexy und trendy“ sei. Für etwa 4,3 Millionen Euro stellte Schmidt ein Programm zusammen, das großangelegte Erinnerungsfeierlichkeiten, Denkmalseröffnungen, kulturelle Veranstaltungen, und Konferenzen umfasste. Im „Haus des Terrors“ können Besucher kurze Videos des Regisseurs György Pálffy betrachten, der bereits zwei Oskars (Hukkle, Taxidermia) gewann. Diese Videos mit dem Titel „Egy akaraton 1956-2016“ zeigen dem Betrachter das imaginierte Schicksal von Straßenkämpfern im Verlauf des Aufstandes. Bereits jetzt kann man die offizielle Hymne zum Gedenken an 1956 nachhören.
Das Lied „Egy szabad országért“ (Für ein freies Land) wurde von dem erfolgreichen US-amerikanischen Schlagerproduzenten Desmond Child komponiert und produziert. Child wurde nicht zuletzt wegen seines ungarischen Vaters, Baron Málfy, ausgewählt. Der Text der Hymne erwähnt das Jahr 1956 mit keinem Wort, er hat vielmehr eine allgemeine Botschaft: Die Ungarn, so der Text, leben in Frieden, sie müssen jedoch immer wieder um ihr Land kämpfen, „wie ein Mann“, daher dürfen sie ihre Helden nicht vergessen.
Das Video zeigt, wie die zahlreichen Popmusiker gemeinsam mit dem Produzenten scheinbar unendlichen Spaß dabei haben, das Lied einzustudieren.

Neben Mária Schmidt, deren Terrormuseum bereits unter Orbáns erster Regierung (1998-2002) gegründet wurde, sind seit der Verabschiedung des Grundgesetzes von 2011 neue Institutionen auf dem Gebiet der Geschichtspolitik und der wissenschaftlichen Forschung zur Geschichte Ungarns geschaffen worden. Seit 2013 gibt es ein „Nationales Erinnerungskommittee“ (Nemzeti Emlékezet Bizottság - NEB) und ein Institut mit dem Namen „Veritas“, das der „historischen Wahrheit“ verpflichtet sein soll. Während das NEB vor allem dem Gedenken und der Erforschung der Verbrechen der kommunistischen Diktatur gewidmet ist, unterhält das Veritas-Institut auch Abteilungen für die Geschichte Ungarns zwischen Ausgleich und Erstem Weltkrieg (1867-1918) und für die Geschichte, Kritiker sagen: für die Rehabilitierung, des Horthy-Regimes (1920-44). Präsidentin des NEB ist Réka Kiss Földváryné, Historikerin und Ethnologin, spezialisiert auf die Geschichte der reformierten Kirche in Ungarn.

Was an der Erinnerungspolitik der letzten Jahre auffällt, ist eine engere Zusammenarbeit mit Partnerinstitutionen in den Visegrad-Staaten.[2] Im Jahr2016 gibt es zahlreiche gemeinsame ungarisch-polnische Gedenkveranstaltungen zum Jahr 1956. In diesem Kontext sind allerdings auch neue, durchaus innovative Forschungsarbeiten entstanden, etwa Bence Csatáris Buch über Popmusik im ungarischen Staatsradio in der Kádárzeit, oder Stefano Bottonis Arbeit über die Kooperation zwischen ungarischen und italienischen Kommunisten seit den 1960er Jahren. Gleichzeitig wurde das 1956er-Institut, das die Forschung in den 1990er Jahren dominierte, praktisch abgewickelt (das Archiv ist nun Teil der Széchenyi-Nationalbibliothek), es lebt zwar als Stiftung weiter, ist jedoch auf Spendengelder angewiesen.

 

Árpád v. Klimó, ist Historiker und derzeit Professor für Neuere Geschichte  an der Catholic Universtiy of America, Washington, DC. Er wurde im Jahr 2001 an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit zum Thema: Nationale Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860 bis 1948) habilitiert.

 

[1] Ferenc Gyurcsány war von April 2004 bis September 2009 ungarischer Ministerpräsident

[2] Zu der 1991 gegründeten Visegrad-Gruppe gehören inzwischen: Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn.